Begrabt mein Herz am Heinrichplatz – Lesung und Diskussion mit Dagobert Langhans und Sebastian Lotzer

“Die Demonstration an jenem 12. März 1977 hatte nichts Fröhliches und Heiteres. Lange, wütende Gesichter, Taschen voll mit Molotows und unter den Regenmänteln ahntest und wusstest du Waffen. Im Zentrum der absolut leeren und angstvollen Stadt bewegte sich der Demonstrationszug langsam auf der Suche nach Objekten voran, aber diesmal konnte es sich nicht darum handeln, einen Supermarkt zu enteignen oder private Wachleute zu entwaffnen. In Bologna hatte man uns einen Genossen ermordet und Angesicht dessen schien uns all das unangemessen. Über den Köpfen die üblichen Slogans voller Wut und Groll, einige wenige zeigten mit den Händen in der Luft das Symbol der Pistole….

Auf der Höhe des Corso Monforte hat der Demonstrationszug brüsk gestoppt. Wir rannten, um die Spitze zu erreichen und dort, vor uns, war das Polizeipräsidium, vollständig von mit Winchestern bewaffneten Carabinieri umlagert. Die Verantwortlichen der verschiedenen Gruppen der Autonomia sprachen leise miteinander. Sie fragten, ob wir von Rosso damit einverstanden wären, das Präsidium mit allen Mitteln anzugreifen.

Es genügt ein Augenblick, um zu begreifen, dass die illegalen Sachen, die wir gemacht hatten, damit sie Teil der Bewegung würden, im Begriff waren, sich gegen die Bewegung zu wenden. Der Einsatz von Gewalt dann nicht mehr im Dienst einer konflikthaften und harten Auseinandersetzung, sondern war dabei, ausschließlich Territorium derer zu werden, die jegliche Möglichkeit politischer Massenarbeit aufgeben wollten, um die Linie der bewaffneten Kampfes und der Illegalität zu wählen. 

In diesem Moment musste man der Illegalität jedoch sofort ein anderes Objekt als das Polizeipräsidium – aber genauso gewalttätig – anbieten, ein “Fluchtweg”, der ist “Rosso” erlaubte, noch mit den Resten an Bewegung, die es in Mailand gab, in einem Dialog zu treten und den mörderischen Zusammenschluss mit den Carabinieri zu vermeiden…

“Wir sind gegen einen Angriff auf den Staat, der Angriff liegt nicht im Interesse der Autonomia.” “Seht ihr nicht die Gewehre der Bullen, es wäre ein Wahnsinn!” Einige Flüche, Schimpfwörter, Rippenstöße. Schließlich reagierte der Zug und setzte sich in Bewegung. Die Parole zur Assolombarda zu gehen war weitergegeben worden. Ein Stoßseufzer der Erleichterung und im Kopf das klare Gefühl, sich in einer chaotischen Situation von enormer Tragweite zu befinden. Wir waren in eine Sackgasse geraten, wie wieder herauskommen?…

Gegen das leere Gebäude mit vielen Fenstern ein entluden wir alles was wir hatten. Mollies nach Belieben, Pistolen – und Gewehrschüsse. Die Fenster des “Kapitalistenhauses” zersprangen dass es eine Freude war. “Es brennt Junge, es brennt” hörten wir eine Stimme in uns. Und dann schnell weg.

Es war der letzte Versuch in Mailand die Situation der Bewegung mit den organisierten Gruppen der Autonomia zu verbinden, die bald im Schraubstock von Repressionen und Militarisierung verenden würden. Es war die letzte Demonstration, auf der sich das höchste Niveau des Zusammenstoßes und dann Bewaffnung – ohne Personen, Menschen anzugreifen – gezeigt hatte. Zwei Monate später, während einer Demonstration gegen die Repression, wurde der Polizist Custrà erschossen: Die Kampflinie hatte sich ins Ende der Bewegung verlagert.”  

Die goldene Horde – Primo Moroni und Nanni Balestrini

Ohne diese Zeilen, ohne die unglaublichen Wörter und Bilder, die Nanni Balestrini in “Die Unsichtbaren” für das Schicksal, den Schmerz, die Einsamkeit der Gefangenen der Revolte der 70er in den italienischen Knästen, in denen sie zu Tausenden besaßen, gefunden hatte, wäre der Roman “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” nie geschrieben worden. Während in Italien, auch heute noch, jedes Jahr neue Bücher über den Aufbruch und die Revolte, die das Italien der 70er prägte, geschrieben, gedruckt und veröffentlicht werden, sind bis dato gerade einmal eine handvoll Romane über die Revolte der Hausbesetzer, Autonomen, Startbahn-West-Gegner in Berlin, Hamburg, Frankfurt… erschienen.

2017 erschien die erste Auflage von “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” bei Bahoe Books. Es folgten zwei weitere Auflagen, trotzdem ist das Buch seit mehreren Jahren nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Am 2. Juni erscheint nun die vierte Auflage des Romans, Anlass und Gelegenheit, um sich erneut mit diesen verschütteten Erinnerungen, die weit mehr sind als ein billiger Vorwand, jedes Jahr aufs neue am 1. Mai dem Aufmarsch neoleninistischer und neotrotzkistischer Sekten in Berlin beizuwohnen, auseinanderzusetzen, und sie in Bezug zu setzen zur allgegenwärtigen Leere und Ratlosigkeit, die sich überall breit gemacht hat. Diese Zeilen und Gespenster zu befragen, um dem ewigen Kreislauf von “Geschichte, die sich als Tragödie oder Farce wiederholt” vielleicht doch noch zu entrinnen. 

Nicht zufällig findet die Lesung und Diskussion im Kontext der Reihe “Gezeiten der Revolten” statt, eine Veranstaltungsreihe in Berlin, die im April 2024 mit einer Präsentation zur Broschüre über die Revolte der Banlieues im Sommer 2023 in Frankreich begann und am 12. Juli mit einer Podiumsdiskussion mit Ralf Reinders und Karl Heinz Dellwo zur Geschichte des bewaffneten Kampfes und in Solidarität mit Daniela Klette und den noch gesuchten Genossinnen und Genossen enden wird. Der Staat vergisst seine Feinde nicht, leider aber haben allzuviele ihre Feindschaft zum Staat, im Schatten von Corona Ausnahmezustand, “Zeitenwende” und “feministischer Außenpolitik” vergessen, oder um im Subtext von “Begrabt mein Heinrichplatz” zu bleiben, das Kriegsbeil begraben. 

Eine neue Generationen von “Barbaren” setzt zum “Sturm auf den Himmel” an, und während in vielen Teilen der Welt jene übriggebliebenen Reste des alten grundsätzlichen Antagonismus zu Teilen ihr altes Handwerkszeug, ihre eigene theoretischen und praktischen Erfahrungen, ihre Lehren aus den erlittenen Niederlagen und Demütigungen versuchen zu reflektieren, neu zu schmieden, um den Gegenwärtigkeiten der sozialen Konfliktualität gerecht zu werden, herrscht hierzulande eine Begriffslosigkeit vor, die sich u.a eben auch aus der nicht erfolgten Reflexion der eigenen Geschichte, der eigenen Kämpfe, speist, die entweder verklärt oder verleugnet werden. Weil die eigene Orientierungslosigkeit und der allgegenwärtige Konformismus, die Unterwerfung unter die Codes der Identitätspolitik alles blockieren und diffamieren, was sich in ein kritisch-solidarisches Verhältnis zu den Revolten des rassifizierten Subproletariats hierzulande (Silvester etc..) setzt.  

Die Aktualität einer Erzählung wie “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” ergibt sich aus der Verstoffwechselung dessen, was diese Bewegung der Besetzer und Autonomen erschaffen und über so viele Jahre immer wieder zum grundsätzlichen Angriff auf den Staat getrieben hat. Ein Verständnis davon, was ihre Begrenzungen waren und welcher Genese die Begrenzungen des Hier und Jetzt sind. 

Lesung und Diskussion anlässlich des Reprints von “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz:” 

Sonntag, 16.6. 2024, 19:00 Uhr

Ort: LAIDAK

Boddinstr.42/43

Berlin Neukölln